Formfehler sollen Pechsteins Unschuld belegen

Berlin - Vertauschte Proben, riesige Werteschwankungen, gravierende Formfehler: Olympiasiegerin Claudia Pechstein hat sich in Berlin den Frust von der Seele geredet und erstmals ihre Verteidigungsstrategie offengelegt.
"Man wird ja irre, wenn man zu Hause sitzt und die Schlagzeilen liest. Ich habe den Dopingstempel auf der Stirn mit dem Wissen, nichts gemacht zu haben", sagte die 37-Jährige bei ihrer ersten Pressekonferenz seit dem Urteil der Internationalen Eislauf-Union (ISU). In einer weißen Bluse wirkte sie im Blitzlichtgewitter der Fotografen sichtbar gezeichnet vom Stress der vergangenen Wochen.
Obwohl ihr Anwalt Simon Bergmann betonte, in der Berufungsverhandlung vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS nicht nur auf Formfehler setzen zu wollen, stellten die Berlinerin, ihr Rechtsbeistand und ihr Manager Ralf Grengel Rechercheergebnisse vor, die Pechstein entlasten sollen. Der Kölner Doping-Analytiker Wilhelm Schänzer urteilte danach: "Die Verteidigung ist gut aufgestellt. Das Verfahren in der Schweiz wird sehr interessant."
Die fünfmalige Olympiasiegerin griff die ISU und deren Beweisführung in der Anklage massiv an. "Die ISU sollte im eigenen Laden schnellstens aufräumen. Sie sollte sich Gedanken machen, das Urteil aufzuheben und sich schnellstmöglich bei mir entschuldigen", sagte Pechstein, die weiterhin ihre sechste Olympia-Teilnahme anstrebt und im Februar 2010 in Vancouver eine Medaille holen will.
Belegt durch Originaldokumente und untermauert von zwei Experten wurden die Indizien für die Sperre in Zweifel gezogen. So sollen acht der 20 Trainingskontrollen Pechsteins und drei Wettkampfproben, die als Beweismittel vor dem ISU-Schiedsgericht dienten, nicht eindeutig einer Person zugeordnet worden sein. Betroffen von Verwechslungen seien auch Daten, die erhöhte Retikulozytenwerte ausweisen und somit von Konkurrentinnen Pechsteins stammen könnten. Offen sei laut Bergmann nach wie vor, in welchen Laboren und unter welchen Umständen die 14 erhöhten Reti-Werte bei ihren 95 öffentlich gemachten Blutkontrollen stammten. "Die ISU verfuhr nach dem Prinzip: Friss oder stirb - ein schwerer Verfahrensfehler, der zur Aufhebung des Urteils führen muss", so der Anwalt.
Zu seinem Beweismaterial beim Hauptverfahren vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS im Herbst gehören auch die Ergebnisse einer Probe vom 15. April, die in verschiedenen Laboren gravierende Schwankungen aufwiesen. In Kreischa seien dabei ihre Retikulozyten, eine Vorstufe der roten Blutkörperchen, mit 2,4 Prozent gemessen worden, in Lausanne mit einem anderen Analysegerät nur mit 1,3 Prozent. Bei der WM in Hamar waren bei Pechstein im Februar 3,5 Prozent und damit eine gravierende Überschreitung des Grenzwertes von 2,4 gemessen worden.
Harm Kuipers, der Chef-Mediziner ISU, hatte im dpa-Gespräch mit Verwunderung auf die Abweichungen reagiert. "Es ist merkwürdig, dass bei der Auswertung einer Probe in zwei Labors so unterschiedliche Werte herauskommen", erklärte der Niederländer. "Ich kann mir nur vorstellen, dass dies mit der Eichung des Geräts in Kreischa oder einer falschen Kühlung der Probe zusammenhängt", sagte Kuipers. Grengel konterte: "Es ist interessant, dass Herr Kuipers nun plötzlich die Argumente der Verteidigung übernimmt. Genau diese Mängel hatten wir schon im Verfahren angesprochen." Die Abweichung der Werte einer Probe von 81,8 Prozent zeige, "mit was für einem Irrsinn hier die Karriere einer Olympiasiegerin zerstört wird".
Rückendeckung erhielt Pechstein durch ein Gutachten des Referenz-Institutes für Bio-Analytik in Bonn (RfB), das klarstellt, dass solche Abweichungen völlig normal sind. So unterliege eine Probe mit einem Mittelwert von 2,0 Prozent einer Schwankungsbreite zwischen 1,2 und 2,8 Prozent, erläuterte Rolf Kruse vom RfB. Selbst bei korrekter Messung lägen durchschnittlich fünf von 100 Werten sogar weiterhin außerhalb dieses Bereiches. Holger Kiesewetter von der Berliner Charité unterstrich, dass die Reti-Werte aufgrund ihrer Schwankungen "absolut ungeeignet sind, einen Dopingnachweis zu führen".
Der Präsident der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG), Gerd Heinze, der im Vorfeld Pechsteins Pressekonferenz kritisiert hatte, zeigte sich anschließend einverstanden mit der "wahrheitsgemäßen Wiedergabe des Sachverhalts". Pechstein habe so umfassend wie keine andere ihre Strategie offengelegt und Daten öffentlich gemacht: "Ich hatte zuvor Bedenken, dass sie sich noch mehr in die Bredouille bringt. Das ist nicht geschehen." Der CAS wird laut Pechsteins Anwalt voraussichtlich bis Ende nächster Woche über den Eilantrag entscheiden, mit dem sie die Aufhebung des Trainingsverbotes erreichen will.
Bergmann erklärte ferner erstmals, dass ihm im April der "Kuhhandel" von der ISU angeboten wurde, das Verfahren gegen Pechstein einzustellen, wenn die erfolgreichste deutsche Winter-Olympionikin ihre Karriere beendet. "Ich habe selbst mit Gerhardt Bubnik, dem Chef der Rechtskommission, telefoniert. Wir hatten Vertraulichkeit vereinbart. Nach den gezielten Fehlinformationen der deutschen Presse durch die ISU sehe ich keinen Grund mehr, mich daran zu halten", sagte Bergmann.
Von Frank Thomas und Robert Semmler, dpa