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Ein Reitunfall zerschmetterte den Schädel von Carmen Paul und brach ihr das Genick. Die Ärzte gaben sie auf. Doch sie überlebte. Paul blieb nicht querschnittsgelähmt. Sie blieb nicht geistig behindert. Stattdessen weiß sie nun, wie sich der Himmel anfühlt. Ein Gespräch über ein Nahtoderlebnis.
Paul: Zuerst sah ich mich selbst während der Operation. Ich habe versucht, den Ärzten etwas zuzurufen, aber sie haben natürlich nicht reagiert. Für mich war in dem Moment klar: Ich bin tot. Dann hat mich jemand an der Hand genommen. Ich wusste, wer es war, aber ich traute mich nicht, ihn auch anzusehen. Es war ein Gefühl, zu Hause zu sein. Wir liefen auf leuchtend-goldenen Straßen. Alles war voller Licht und durchsichtig. Alles war Wahrheit und Liebe.
Wahrscheinlich eher so eine Art Empfangskomitee des Himmels. In jedem Tautropfen leuchteten Millionen Farben. Am stärksten beeindruckte mich aber die Musik. Der Gesang. Das war unbeschreiblich. Eine Million Lieder – und keines davon über Sorgen oder Schmerz. Ich konnte dann später, zurück im Leben, zwei Jahre lang keine Musik mehr hören.
Wir standen vor einer großen Tür. Und mir war klar, was das bedeutete. Ich wollte unbedingt durch diese Tür gehen, weil ich mich so wohl fühlte und so zu Hause. Es war, als würde ich in einen Ozean voller Liebe eintauchen. Aber dann zeigte er mir Bilder. Von einem Haus an der Ostsee, das ich noch nicht kannte. Von einem Fest, bei dem die Menschen alte Sachen trugen. Von meiner Tochter, die zum Zeitpunkt des Unfalls 15 Jahre alt war, mit ihrem Kind und ihrem Mann. Von mir selbst als Predigerin.
Nein! Ich habe ihn angefleht, mich dort bei ihm zu lassen. Aber er sagte mir: ‚Stop! Du musst zurück.‘ Da habe ich Jesus zum ersten Mal angesehen – und es hat mich umgeworfen, ich fiel tatsächlich um! Da war so viel Liebe in seinen Augen. Er sagte: ‚Ich habe dich erlöst. Ich hab dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. Und jetzt geh los. Geh zu den Menschen und sag ihnen, wie lieb ich sie habe‘. Das war mein Weg zurück, das war mein Auftrag,“
Ich war bestimmt fünf Jahre lang mit eineinhalb Beinen im Himmel und wollte dahin zurück, wo ich mich so zu Hause gefühlt hatte. Und nach dem Koma war es so, als wäre meine Festplatte komplett gelöscht. Meine Wirbelsäule war zwar unerklärlicherweise wieder ganz, aber ich wusste nichts mehr. Ich erkannte meinen Mann und meine Tochter nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich mit dem Essen machen soll, das in mein Krankenzimmer geschoben wurde. Und als mir die Krankenschwester sagte, dass ich an den Tropf müsste, wenn ich nicht selbständig esse, dachte ich, der Tropf wäre der Mann, der immer abends in mein Zimmer kam. Erst ganz langsam, nach und nach, kamen die Dinge wieder zurück.
Nein, vieles bleibt verschollen. Ich habe als Zoofachfrau gearbeitet und später eine wirtschaftliche Ausbildung gemacht. Davon weiß ich heute nichts mehr. Aber ich sage mir: Was ich nicht mehr weiß, brauche ich für mein Leben auch nicht mehr.
Ja, ich habe später tatsächlich in dem Haus an der Ostsee gelebt. Und ich predige heute vor einer Gemeinde. Und meine Tochter hat tatsächlich mittlerweile eine blondes Kind bekommen.
Ich hatte das aus den Augen verloren. Mein eigentlicher Gott war vor meinem Unfall das Geld. Dafür habe ich gearbeitet und gelebt. Deswegen hatte ich auch zu Beginn des Komas Sorgen, ob es für mich reichen würde, in den Himmel zu kommen. Ich sah alle Dinge, die ich getan hatte. Die guten und die schlechten.
Im Leben kann man sich sehr viel erfüllen, aber was ist mit der Ewigkeit? Ich will, dass die Menschen gerettet werden. Es gibt viele, die mich auslachen. Ich sage da: Warten wir es ab.
Interview: Marco Heinrich