Angeklagter „Reichsbürger“: Der Todesschütze aus der anderen Welt

Aus dem Hinterhalt soll der „Reichsbürger“ Wolfgang P. im vergangenen Herbst einen Polizisten erschossen haben. Zum Auftakt des Prozesses gibt es Einblick in seine verschrobene Gedankenwelt.
Nürnberg - Zehn Minuten nach 9 Uhr öffnet sich eine kleine Schiebetür. Hervor tritt Wolfgang P., 49, ein kahl geschorener, nicht sehr großer, aber kräftiger Mann, der sein Gesicht nicht hinter einem Aktenordner verbirgt, wie es oft andere Angeklagte machen. Im Gegenteil: P. blickt selbstbewusst in die Kameras, ehe er dann stolpert - er hat den Treppenabsatz übersehen, der zu seinem Angeklagtenstuhl führt. Aber P. fängt sich rasch - er will sich nicht unterkriegen lassen in dieser ihm feindlichen Welt.
Diese Welt besteht am Dienstag aus dem historischen Schwurgerichtssaal 600 im Nürnberger Justizgebäude - ein historischer Saal, dort fand 1945/46 der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess statt. Auch P. wird oft als Rechtsradikaler bezeichnet, wobei die Frage ist, ob diese Bezeichnung so richtig ist. Zwar gibt es auch antisemitische Äußerungen von ihm, vor allem aber ist er jemand, der staatliche Stellen aller Art radikal ablehnt und sich eine Parallelwelt im Miniaturformat erschaffen hatte. Sein Wohnhaus in Georgensgmünd südlich von Nürnberg hatte er gelb umrandet und mit Fahne und Fantasiewappen zu einem Staat deklariert - den „Regierungsbezirk Wolfgang“, so steht es noch heute am Briefkasten.

Wolfgang P. verletzt Polizist an der Lunge
In dieser Welt, so sieht es wohl der Angeklagte, brach am 19. Oktober des vergangenen Jahres der Feindstaat ein - in Gestalt eines bayerischen Spezialeinsatzkommandos (SEK), das dem Mann rund 30 Schusswaffen wegnehmen wollte. P. aber hatte sich im ersten Stock seines Hauses eingeschlossen. Als der SEK-Beamte Daniel Ernst hinter der teilverglasten Wohnungstür kniete und versuchte, sie mit einem Hydraulikgerät zu öffnen, schoss P. eine ganze Salve ab. Eines der elf Projektile verletzte die Lunge des 32-Jährigen, der wenige Stunden nach der Attacke starb. Die Mutter von Daniel Ernst war am Dienstag auch im Gerichtssaal. Zwei weitere Polizisten erlitten damals im Oktober Verletzungen.
Nun steht P. vor einer Instanz, die es in seiner Welt eigentlich nicht geben darf: dem Landgericht Nürnberg-Fürth, 5. Strafkammer. Er soll einen Menschen „heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet“ haben. So lautet die Anklage, die auf Mord plädieren wird.
Angeklagter verweigert Angaben zu seiner Person
Über seine Anwältin Susanne Koller lässt P. schon vor dem Gerichtsverfahren ausrichten, dass er über den Tod des Polizisten „zutiefst erschüttert“ sei und dass dies „nicht seine Absicht“ gewesen sei. Dem Prozess jedoch, so wird gleich zu Beginn erkennbar, verweigert er sich. Wer staatliche Stellen konsequent ablehnt, hält auch bayerische Gerichte für illegitim - was dazu führt, dass der Angeklagte der Richterin Barbara Richter-Zeininger die obligatorischen Angaben zur Person, die am Anfang jedes Prozesses stehen, beharrlich verweigert. Stattdessen sagt er: „Ich bin der freie Mann Wolfgang.“
Es ist nur ein Satz, aber er lässt tief blicken. Wolfgang ist „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, der seinen Personalausweis zurückgegeben und sich eine neue Identität gebastelt hat. In einer „Lebenderklärung“, die im Rathaus seines Wohnorts abgegeben wurde, nannte er sich „Wolfgang Johannes aus der Familie P.“.
„Reichsbürger von Georgensgmünd“: Zweiter Polizist angeklagt
Psychiater muss P. mit Vornamen ansprechen
Wie sich P. in dieser verschrobenen Gedankenwelt verfangen hat, das erhellt gleich am ersten Prozesstag der forensische Psychiater Michael Wörthmüller, der P. in der Nürnberger Justizvollzugsanstalt mehrmals gesprochen und zu ihm ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Unter einer Bedingung: Auch Wörthmüller musste ihn schlicht als „Wolfgang“ ansprechen, nicht etwa als Herr P. Wörthmüller erhielt Einblick in den Radikalisierungsprozess des „Reichsbürgers“.
Als er erst sieben Monate alt ist, brachte sich seine Mutter um. P. wuchs bei seinen Großeltern auf, machte den Realschulabschluss und arbeitete nach einer abgebrochenen Lehre offenbar recht erfolgreich als Vermögensberater - er vertickte Bausparverträge und gab Anlagetipps, zeitweise soll er 30 Mitarbeiter gehabt haben. Sein Wissen in Finanzdingen war wohl eine Wurzel, die P. in die Unterwelt der „Reichsbürger“ trieb. Denn als das Bankensystem in der Finanzkrise mehr und mehr in Schieflage geriet, interpretierte das P. auf seine Weise. Man müsse sich dem Bankensystem konsequent verweigern, „Widerstand“ leisten, das sind Sätze, die Wörthmüller überliefert.

Schädel- und Hirnverletzung bei Verkehrsunfall erlitten
Freilich gibt es einen Bruch im Lebenslauf: Ein schwerer Verkehrsunfall, bei dem er eine Schädel- und Hirnverletzung erlitten hatte, hatte P. 2001 aus der Bahn geworfen. Die daher rührende hirnorganische Schädigung ist aber geringfügig und dürfte nicht dazu führen, dass P. Unzurechnungsfähigkeit attestiert wird. Denn er rappelte sich wieder auf. Nach langer Berufsunfähigkeit versuchte er einen Neuanfang als Trainer für fernöstliche Kampftechniken, unter anderem Wing Tsun. P. war auch begeisterter Schütze, sogar hessischer Meister im Tontaubenschießen, wie seine Anwältin Susanne Koller sagt. Seine Waffenaffinität reicht weit zurück: Schon 1991 hat er einen Waffenschein beantragt, und schon früh hatte er die Angewohnheit, mit einer Waffe unter dem Kopfkissen zu schlafen.
Mit Wörthmüller hat P. über „viele Dinge geredet, die ihm merkwürdig vorkamen“, wie es der Psychiater ausdrückt. Er habe 5000 Stunden im Internet recherchiert, so erzählte er es dem Psychiater, und offenbar lief P. in den vergangenen Jahren so ziemlich jeder Verschwörungstheorie hinterher, die auf den Markt kam. Chemtrails zum Beispiel, angeblich mit Chemikalien erzeugte Kondensstreifen also, die von Flugzeugen versprüht werden, um das Wetter zu manipulieren oder gleich die ganze Menschheit. Zur fixen Idee wurde es bei P., mitten in Deutschland autark zu leben. Er bunkerte 1000 Liter Heizöl im Keller, hielt sich einen großen Vorrat an Lebensmitteln, sah eine allgemeine „Bedrohungslage“ und wartete auf den Einbruch des Feindstaats.
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Freundin macht im Juni 2016 Schluss
So viel Verschwörung war zu viel für seine Freundin, die sich im Juni 2016 von ihm trennte. Mehr und mehr suchte P. nun Kontakt zu Gleichgesinnten. Zum Beispiel zu Adrian Ursache, den er besuchte. Ursache ist ein ehemaliger Mister Germany, der in einem Dorf im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt ganz ähnlich agierte wie der Angeklagte. Ursache deklarierte sein Grundstück zum Scheinstaat „Ur“ und bewaffnete sich. Auch Ursache stellte das Bankensystem infrage. Eine weitere Parallele: Im August 2016, nur zwei Monate vor den Schüssen von Georgens-gmünd, kam es zum Schusswechsel im Staate „Ur“ - als Polizisten bei einer Zwangsräumung helfen sollten. Ursache wurde schwer, zwei Beamte leicht verletzt - der Prozess beginnt demnächst.
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Hätte die Polizei also wissen müssen, dass P. auch schießen würde? Dass er seine Waffen nie und nimmer freiwillig abgeben würde? Anwältin Susanne Koller wirft der Polizei vor, den Einsatz „dilettantisch durchgeführt“ zu haben. P. habe im Bett gelegen und an einen Einbruch geglaubt. So eine Version wirft freilich neue Fragen auf - warum hatte P. eine kugelsichere Weste an, als die Polizei ihn festnahm? Oder lag er mit der im Bett? Bis Mitte Oktober will das Gericht klären, warum Daniel Ernst in Georgensgmünd sterben musste.

Dirk Walter